S. Externbrink u.a. (Hrsg.): Penser l'après Louis XIV

Cover
Titel
Penser l'après Louis XIV. Histoire, mémoire, représentation (1715-2015)


Herausgeber
Externbrink, Sven; Levillain, Charles-Édouard
Erschienen
Anzahl Seiten
322 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Seiwerth, Institut für Geschichte, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Noch 1992 widmete der britische Kulturhistoriker Peter Burke in seiner Studie über die Konstruktion des Bildes Ludwigs XIV. lediglich wenige Absätze seines Schlusskapitels dem Fortwirken der ludovizianischen Öffentlichkeitsarbeit. Darin fasste er prägnant zusammen, inwiefern die Praxis obrigkeitlich orchestrierter Majestätsentfaltung das Auftreten von Herrschern und Politikern bis ins 20. Jahrhundert beeinflusste. Sein Ziel war es, die Fabrikation des Sonnenkönigs – so der einschlägige Titel der Arbeit – in einem komparativen, epochenübergreifenden Kontext zu platzieren, dabei aber nicht zu vernachlässigen, dass Methoden und Rezeption des Prunks ebenfalls Subjekte historisch-kultureller Prozesse sind1 – ein Bereich, der in der Historiografie über Ludwig in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit erfahren und mittlerweile auch Eingang in übergreifende Biografien des Königs gefunden hat.2

Der vorliegende Band spannt nun in ähnlicher Linie knapp 30 Jahre später mit einem Team aus französischen, britischen, deutschen und niederländischen Forscher/innen nicht nur eine internationale Dimension auf, sondern wendet sich auf gut 300 Seiten intensiv einer dreihundertjährigen kulturellen Tradition zu. Die Autor/innen nehmen sich zum Ziel, die Historiografie über Ludwig XIV. neu auszuloten und dadurch einen Mittelweg zwischen einer „tradition apologétique […] du génie francais supposément incarné par Louis XIV.“ und einer „tradition critique non exclusivement étrangère et non exclusivement protestante“ (S. 15) zu finden. Die zentrale Prämisse lautet, dass „chaque siècle a besoin de réinventer son Louis XIV en fonction de contraintes propres“ – und diese soll im Folgenden exploriert werden. Der Sammelband ist grob in drei Epochen geteilt: das „âge des lumières“ und deren zwiespältiges Verhältnis zum Sonnenkönig unmittelbar nach dessen Tod bis hin zur Französischen Revolution, die „renouveau critique et triomphe des nationalismes“ des 19. Jahrhunderts und schließlich eine epochenübergreifende Betrachtung der „représentations, aspects pratiques et perspectives de recherche“ vom 18. bis ins 21. Jahrhundert.

In den Grenzen des „âge des lumières“ beschäftigen sich die Autor/innen vor allem mit einigen der prominentesten Literaten des post-ludovizianischen Frankreichs, namentlich Montesquieu, Saint-Simon und Voltaire. Besonders bemerkenswert, da konzeptuell außergewöhnlich, ist der Beitrag Allan Potofskys. Denn er bewegt sich abseits der – durchaus fruchtbaren – Analyse einzelner Autoren und gibt dadurch einen höchst interessanten und detaillierten Einblick in den unter dem Begriff Embellisement gebündelten Diskurs rund um die Unwürdigkeit von Paris als Weltstadt. Deren wachsende Dekadenz und ihr Gewirr seien „worthy of comparisons to classical Rome at the beginning of the century and to mythological Babylon at century’s end“ (S. 91) gewesen. Potofsky beleuchtet dann – und damit entsteht die direkte Verbindung zum übergreifenden Thema des Bandes –, wie Kritiken an Ludwigs Regierungsstil Eingang in diese Diskussion um die Beschaffenheit von Paris fanden und daraufhin auch die Stadtplanung maßgeblich beeinflussten. Der Großteil der Kritik der sogenannten „urbanistes“ (S. 97) bestand darin, dem ehemaligen, „absolutistischen“ Staat Ludwigs vorzuwerfen, aus reiner Dekadenz die Verwaltung von Paris fallen gelassen und jegliche Stadtplanung an Privatpersonen übergeben zu haben, was ihrer Meinung nach für den desolaten Zustand der Stadt verantwortlich war. Der Aufsatz zeigt dann auf beeindruckende Weise, wie sich dieser Diskurs direkt nach Ludwigs Tod 1715 in der wechselnden Stadtverwaltung einnistete und bis in die Revolutionszeit hinein eine interventionistische Planung befeuerte, die sich selbst dezidiert als Antithese zum Desinteresse und zur Laissez-faire-Attitüde der Zeit des Sonnenkönigs sah.

Für den „triomphe des nationalisme“ liegen zwei herausragende Aufsätze vor, die sich fragen, inwiefern die Rezeption des „absolutistischen“, ludovizianischen Idealstaates, der im 19. Jahrhundert „nothing short of axiomatic” (S. 149) war, die Konzeption und Entwicklung der aufkommenden Nation beeinflusste. Paule Petitier richtet seinen Blick auf die Zeit des Zweiten Kaiserreichs und den Kampf um Deutungshoheit innerhalb der sich noch in den Kinderschuhen befindenden französischen Geschichtswissenschaft, welche durch den politischen Paradigmenwechsel in einer schwere Krise geraten war. Petitier bezieht dabei eine breite Auswahl ideologischer Positionen ein: von der Académie française mitsamt der Académie des sciences morales et politiques, die mit „beaucoup d’historiens […] libéraux de la monarchie Juillet“ (S. 132) besetzt war, über die vom Kaiserreich geförderte Historiografie, die in der Zeit Ludwigs „le moment où se constitue la forme moderne de la nation“ (S. 135) sah, bis hin zur republikanischen Opposition, die mit einem Vergleich zum „absoluten“ Ludwig „le retour de la tyrannie“ (S. 140) unter Napoleon III. verdeutlichen wollte. Durch ein so weit geworfenes Netz illustriert der Beitrag, wie dieselbe Epoche zur Legitimation drastisch unterschiedlicher, zum Teil sogar widersprüchlicher Positionen genutzt wurde und wie sich dieser Prozess in Zeiten kontinuierlicher politischer Divergenz verdichtete.

Stephen W. Sawyer befasst sich hingegen zwar nur mit einem Autor, dem französischen Politiker und Schriftsteller Louis Blanc (1811–1882), sticht aber durch die Wahl der Kontrahenten besonders hervor. Sein Ziel ist es, durch die Schriften Blancs, vor allem die fünfzehnbändige Histoire de la révolution française, ein Gegennarrativ zu den um einiges bekannteren Staatstheorien des 19. Jahrhunderts von Alexis de Tocqueville, Karl Marx und Max Weber zu etablieren. „[They] all made Louis XIV the cornerstone of the modern state edifice“ (S. 150), da er in ihrer Sicht durch die Mechaniken des Absolutismus die alten Privilegien der Stände durchbrach und damit den Aufstieg von Bourgeoisie und Bürokratie ermöglichte. Die Theorien Blancs stünden, so Sawyer, im Gegensatz zu Weber und Marx, indem sie nicht davon ausgehen, dass sich der sich entwickelnde Staat und seine Administratoren mehr und mehr verselbstständigten. Stattdessen betonte Blanc, wie „a specific set of social values and transformations became central to the very construction of the state itself“ (S. 153). Dabei geht es Sawyer nicht darum, in antagonistischer oder polemischer Manier die Thesen von Marx und Weber zu widerlegen, sondern ein vollständigeres Bild der Staatstheorie des 19. Jahrhunderts zu liefern.

In Bezug auf den letzten Abschnitt sollen zwei Aufsätze hervorgehoben werden, deren Themen allein Monografien füllen könnten und sich im Gegenstand sehr ähneln. Guy Rowlands und Christian Kühner untersuchen die Rezeption und Historiografie Ludwigs in Großbritannien und den Vereinigten Staaten bzw. im deutschen „outre-Rhin“. Nun kann man kritisieren, dass die Aufteilung der Forschungsgemeinde in nationale Kategorien wie „anglo-amerikanisch“ oder „deutsch“ zu essentialistisch sei. Allerdings schrieb bereits Pierre Bourdieu: „La vie intellectuelle est le lieu, comme tous les espaces sociaux, des nationalismes et d’impérialismes“3 – weshalb es durchaus fruchtbar ist, die Forschungstraditionen verschiedener Kulturräume zu betrachten, um komparative wie auch selbstreflexive Einblicke zu gewinnen. Wie Rowlands beispielsweise argumentiert, trug das oftmals satirische und negative Verhältnis von Briten bzw. später Amerikanern zum Sonnenkönig (oder auch Frankreich generell) dazu bei, dass anglo-amerikanische Historiker grundlegend „the extent of state power; the reality behind ideal, theory and propaganda; and the importance of formal power-play grounded in social relations“ (S. 181) erkundeten – mithin einen Forschungsansatz wagten, der in der französischen Historiografie bisher fehlte. Dabei gelingt es Rowlands, ein dichtes und intensives Bild der Paradigmenwechsel innerhalb der anglo-amerikanischen Forschungsgemeinschaft zu zeichnen, in der das Interesse an der Regierung Ludwigs niemals verschwand, sich jedoch von simplen Modernisierungstheorien zu komplexen Analysen der Machtmechanismen eines korporativen, monarchistischen Staates wandelte, in dem galt: „‚Faction‘ and personal political – indeed, socio-political – relations were […] vital to the functioning of France“ (S. 203).

Im Unterschied dazu fokussiert der Beitrag Kühners auf Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre, also eine Zeit, in der die vermeintliche „deutsch-französische Erbfeindschaft“ in ihrem Zenit stand und Ludwig in Deutschland vor allem wegen seiner Kriege gegen das Alte Reich zutiefst unbeliebt war. Obwohl, so Kühner, vor allem in der Zwischenkriegszeit ein „image plus nuancée dans l’historiographie professionnelle“ existierte, blieb Ludwig in der Propaganda der deutschen Rechten „un sujet exploité […] dans des œuvres historiques pour le grande public“ (S. 257), was vor allem wegen seiner Intervention im Elsass oftmals eine zeitpolitische Dimension besaß. Mit erhellendem Nachdruck unterstreicht Kühner, dass die Voreingenommenheit gegenüber einer nüchternen wissenschaftlichen Analyse Ludwigs „ne disparaît pas d’un coup en 1945, mais se trouve encore dans l’après-guerre“ (S. 267). Ein wirklicher Umschwung vollzog sich erst in den 1960er- und 1970er-Jahren.

In der Einleitung konstatieren die Herausgeber: „Le bilan critique des ‚années Louis XIV‘ se poursuit, enrichi par de nouvelles approches méthodologiques et surtout une internationalisation croissante des échanges scientifiques“ (S. 11). Resümierend lässt sich eindeutig bejahen, dass der Band einen wichtigen Beitrag zur stetig expandierenden Forschung über die Herrschaft und Posterität Ludwigs leistet. Er besticht nicht nur durch den breiten Betrachtungszeitraum, sondern auch durch eine gelungene Mischung aus klassischer, autorenzentrierter Hermeneutik und einer intertextuellen Analyse vielschichtiger historischer bzw. historiografischer Konstellationen. Auch wenn sich einwenden lässt, dass vor allem im letzten Teil aufgrund des Anspruchs, ganze nationale Forschungstraditionen in Aufsätzen abzudecken, die Darstellung etwas an Tiefe zu verlieren droht, so kann man doch positiv anmerken, dass dadurch der komparative und holistische Wert erheblich steigt.

Anmerkungen:
1 Peter Burke, The Fabrication of Louis XIV, 6. überarb. Aufl., London 2011 (1. Aufl. 1992), S. 179–203.
2 Repräsentativ für ersteres ist der im gleichen Jahr erschienene Sammelband: Isabelle Deflers / Christian Kühner (Hrsg.), Ludwig XIV. – Vorbild und Feindbild. Inszenierung und Rezeption der Herrschaft eines barocken Monarchen zwischen Heroisierung, Nachahmung und Dämonisierung / Louis XIV – fascination et répulsion. Mise en scène et réception du règne d’un monarque baroque entre héroïsation, imitation et diabolisation, Berlin 2018. In Bezug auf letzteres sei die aktuellste deutschsprachige Ludwig-Biografie genannt: Anuschka Tischer, Ludwig XIV., Stuttgart 2017, S. 197–203.
3 Pierre Bourdieu, Les conditions sociales de la circulation internationale des idées, in: Actes de la recherche en sciences sociales 145 (2002), S. 3–8, hier S. 3.

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